„Spuren der Zeiten“
Empirische Studie zur Untersuchung
lokaler raumbezogener Identität
am Beispiel der Freien und Hansestadt Hamburg
von Stephan Hormes, Silke Peust
Zusammenfassung
Wenn von „raumbezogener Identität“ die Rede ist, wird dieser komplexe und vielschichtige Begriff umgangssprachlich am klarsten als „Heimatgefühl“ oder einfach „Heimat“ verständlich.
Der Maßstab reicht in diesem Kontext vom Nationalgefühl bis zur ästhetischen Atmosphäre eines Mikro-Kiezes.
Kriegszerstörungen und Wiederaufbau haben dementsprechend nicht nur zu einer Fragmentierung deutscher Stadtlandschaften geführt, sondern auch zu einem Verlust von Urbanität und lokaler räumlicher Identität.
Am Beispiel von Hamburg wird im Folgenden analysiert, welche Stadtbereiche hier noch eine intakte historische Vorkriegsbebauung mit relevanten Ensembles aufweisen und welche Entwicklungsphasen sich aus dem heutigen Stadtkörper noch ablesen lassen.
Darüber hinaus werden alte Handelswege zu Wasser und zu Lande rekonstruiert und eine Spurensuche nach Erinnerungsorten ausgeführt. Zuletzt wird untersucht, welche Auswirkung die Stadtmorphologie auf lokale räumliche Identität und Nutzungsmischung hat.
Schlüsselwörter: Räumliche Identität · Stadtmorphologie · Psychogeographie · Fragmentierung · Stadtgeschichte · Spurensuche · Erinnerungsorte · Kollektives Gedächtnis
Fig. 1: Protoplasmatischer Astrocyt im Vergleich mit „lutetischem Urbanocyten“ ;-)
(Satellitenbild von Paris unter Freistellung der Radialstraßen)
1. Einführung
1.1 Die Seele der Stadt
„Eine Stadt ist mehr als nur ein bebautes Gelände oder eine Ansammlung von Bauräumen.
Um einen Ort zu beschreiben, versuchen wir oft, dessen Atmosphäre einzufangen:
Ein Ort ist seelenlos oder seelenvoll; wir sprechen vom Herz oder vom Leben einer Stadt
und dass diese ein Temperament hat oder atmet.
Städte sind lebende Organismen und daher fällt es uns leicht, eine emotionale Sprache zu wählen,
um Orte zu beschreiben, was die Stadt vor allem zu einer emotionalen Erfahrung macht.
Wir nähern uns ihr als ein lebendiges Wesen und ‚vermenschlichen‘ diese geradezu.
Was ist das, diese ‚Seele einer Stadt‘, die wir fühlen, hören können, riechen,
was wir als unbewussten Teil unseres (emotionalen) Lebens und unserer Erinnerungen wahrnehmen?
Was macht diese gemeinsame Stadtkultur zu einer Persönlichkeit, welche die Bürger teilen?“
1.2 Geschichte im Stadtgrundriss
„Stadtgrundrisse sind wesentlich langlebiger als die baulichen Strukturen. So sind z. B. im Kölner Grundriss noch die Spuren römischer Straßen und das mittelalterliche Straßennetz weitgehend erhalten. Dies heißt zweierlei: Erstens waren die Prinzipien der Raumorganisation
offenbar tauglich genug, um bis heute in Gebrauch zu bleiben, zweitens ist damit dieser Teil des Stadtgrundrisses historisches Dokument früherer Perioden. Zwar sind weder die älteren Bauten noch die Straßen im Detail authentisch, aber das Charakteristische blieb doch erhalten.
Diese Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart ist offenbar bedeutsam für Gesellschaften.
Keine Gesellschaft kann nur im Jetzt oder nur zukunftsorientiert leben und handeln.
Erinnerungen an frühere Perioden und der Respekt vor den Leistungen früherer Generationen gehören zu jeder Kultur. Identitätsfindung bedarf der Orientierung an Vergangenheit, Gegenwart und sich abzeichnender Zukunft.
Insofern hat die Periode des Wiederaufbaus und der strukturellen Korrekturen von 1945 bis 1975
heute schmerzlich erkannte Zerstörungen historischer Baustrukturen und ihrer morphologischen „Welt“
zur Folge gehabt.
Vielfach wurden kurzlebige Modernitätsvorstellungen gegen den erbitterten Widerstand der Bewohner durchgesetzt. Die Ergebnisse waren selten tragfähig.“
1.3 Zäsur und Fragmentierung
Die Zäsur des Zweiten Weltkrieges und die darauf folgende Phase des Wiederaufbaus führte zu einer irreversiblen Fragmentierung eines Großteils der Stadtkörper in Deutschland, welche noch heute grundlegend das Antlitz der hiesigen Stadtlandschaften prägt.
Die Skala dieser Fragmentierung reicht von 0 bis 100%, von komplett erhalten (z.B. Görlitz, Regensburg, Heidelberg) bis nahezu vollständig vernichtet (z.B. Wesel, Pforzheim, Darmstadt).
Ließen sich zuvor noch die verschiedenen städtischen Wachstumsphasen anhand der jeweiligen epochalen Architekturstile wie Jahresringe eines Baumes ablesen, so muss sich der aufmerksame Betrachter seitdem auf eine Spurensuche begeben, um heute historische Zusammenhänge erkennen und begreifen zu können.
Fig. 2: Dresden: Stadtmorphologische Struktur vor der Zerstörung und nach dem Wiederaufbau (etwa 1987)
(aus: Curdes, G.: Stadtstruktur und Stadtgestaltung)
1.4 Räumliche Identität
Als Begleitschaden der gewaltsamen Stadtkörper-Fragmentierung ist ein eklatanter Verlust raumbezogener Identität und Urbanität festzustellen.
Austauschbare und gesichtslose Fassaden der Nachkriegsmoderne sind großflächig anstelle individueller und kleinteiliger Strukturen getreten und haben teils Jahrhunderte alte Erinnerungen ausgelöscht.
Dass es keines Krieges bedarf, um historische räumliche Identitäten und Erinnerungen zu zerstören, hat die Pariser Stadtverwaltung in den 1970er Jahren eindrücklich demonstriert, als sie mit dem ‚Bauch von Paris‘ (Émile Zola) trotz langjähriger Proteste ein komplettes Stadtviertel zugunsten eines banalen Shopping-Centers, gelegen in einem 13 Meter tiefen Krater, herausriss.
1.5 Rekonstruktionen
Der menschliche Wunsch nach räumlicher Identität und Erinnerung ist jedoch so stark, dass man im mitteleuropäischen Raum nicht nur in jüngerer Zeit ganze Stadtteile, Viertel und Ensembles rekonstruierte.
Allen voran ist hier die Warschauer Altstadt zu nennen, die nach vollständiger Zerstörung im Zweiten Weltkrieg in den Jahren 1949 bis 1955 weitgehend originalgetreu wiederaufgebaut wurde.
Auch der Alte Markt in Frankfurt am Main ist ein Beispiel für eine gelungene (wenngleich kontrovers diskutierte), sehr aufwendige Wiederherstellung eines historischen Ensembles, welches seit Mai 2018 der Öffentlichkeit zugänglich ist.
In Potsdam wird seit 1990 der Alte Markt nachgebildet, welcher als Raumschöpfung Friedrichs des Großen nach französischen und italienischen Vorbildern des 18. Jahrhunderts gleichzeitig eine Funktion als Markt-, Schloss-, Kirch- und Rathausplatz innehat.
Hier wurden in friderizianischer Manier sogar die nach der Sprengung im Jahre 1960 eingelagerten originalen Fassadenteile des Stadtschlosses für die Rekonstruktion verwendet, so dass dieses noch ‚echter‘ wirkt.
1.6 Spurensuche
Für Ortsfremde auf der Suche nach städtebaulichen Relikten der Vergangenheit wirft dies die Frage auf, wie Spuren der Zeiten gefunden werden können, da diese oftmals verborgen und zerstreut liegen wie Altbau-Inseln im Meer der Neubauten.
- Welche urbanen Bereiche haben die Zäsur der Fragmentierung überstanden?
- Wo befinden sich Bauensembles oder Stadtlandschaften, in denen die Zeit scheinbar stehen blieb?
- Welche steinernen Zeugen erfüllen nach wie vor ihre Funktion als unverwechselbare Objekte räumlicher Identität und Urbanität?
- Wo ist das legendäre „Haus in der Torstraße“ noch zu finden?
Die Beantwortung dieser Fragen führte zu einer systematischen Suche nach Stadtobjekten, die Historie und Legenden erzählen können.
Diesbezüglich besteht ein signifikanter Zusammenhang zwischen Vierteln bzw. Ensembles mit historischer Stadtmorphologie (im Sinne von Kleinteiligkeit und Nutzungsmischung) und deren Wahrnehmung seitens seiner Bewohner und Besucher, die diese als atmosphärisch, beseelt, stimmungsvoll und lebendig empfinden.
2. Spuren der Zeiten in Hamburg
Fig. 3: „Spuren der Zeiten in Hamburg“
ISBN: 978-3-9814308-44 / ISBN 978-3-9814308-51
Wie kaum eine andere deutsche Stadt bietet sich die Elbmetrople für eine empirische Untersuchung zum Thema raumbezogene Identität an.
Die ‚Operation Gomorrha‘ von Juli bis August 1943, der Wiederaufbau sowie das Hamburgische Streben nach Wirtschaftlichkeit haben die Stadtmorphologie Hamburgs innerhalb weniger Jahrzehnte drastisch verändert.
Hier eine Suche nach Spuren der Zeiten zu beginnen, stellt eine weitaus anspruchsvollere, schwierigere und spannendere Aufgabe dar als beispielsweise in München.
Selbst Mikro-Kieze entwickeln in diesem Kontext Nachbarschaftsinitiativen, die wesentliche Impulse für räumliche Identität geben, wie beispielsweise der „Platz ohne Namen“ in Hamburg- Eimsbüttel.
2.1 Das Kartenwerk „Spuren der Zeiten in Hamburg“
„Reisenden, die zum ersten Mal mit dem Fahrzeug nach Hamburg kommen, kann es passieren, dass diese, dem Zentrumsschild folgend, auf eine achtspurige Straße gelangen, auf welcher sich ein schier endloses Autokorso unaufhaltsam an einer mächtigen Kirchenruine vorbeischiebt. Ehe man sich versieht, fährt man auf einem Überflieger Richtung Bergedorf oder befindet sich auf dem Weg nach Altona.
Doch wo war eigentlich das Zentrum?
Aus der ursprünglichen Suche nach der Keimzelle Hamburgs ist ein umfangreiches, zweiteiliges Kartenwerk entstanden, welches die Elbmetropole auf noch nie dagewesene Art und Weise kartografisch portraitiert und einen zeitlichen Bogen spannt von der legendären Hammaburg aus dem 8. Jahrhundert im Herzen der Stadt zum futuristischen Elbtower im Osten der HafenCity, dessen Fertigstellung im Jahre 2025 erwartet wird“.
2.2 Methoden
Zwei Parameter hinsichtlich der Dimension des zu untersuchenden Gebietes lagen bereits zu Beginn der Projektarbeiten fest:
- ein Maßstab von mindestens 1:10.000, da aus Lesbarkeitsgründen eine Einzelhausdarstellung erforderlich war
- das Druckformat A0 (118,9 cm x 84,1 cm), um über ein möglichst großes und gleichwohl handliches Kartenmaß verfügen zu können.
Aus diesen Bedingungen ergab sich ein fixes Perimeter, welches genau so über das Stadtgebiet gelegt wurde, dass es im Wesentlichen jene Gebiete plus Altona erfasst, die bereits vor dem Groß-Hamburg-Gesetz von 1937 zu Hamburg gehörten.
Aufgrund der Informationsdichte im Innenstadtbereich war zusätzlich die Erstellung einer detailierteren Zentrumskarte im Maßstab 1:5.000 erforderlich.
2.3 Datenerfassung
Zunächst wurde eine zeitliche Grenze zur Erfassung historischer Gebäude etwa bis zum Jahre 1925 (und eben nicht 1945) festgelegt.
Obwohl diese zeitliche Grenze willkürlich erscheinen mag, markiert sie dennoch in der Geschichte der Architektur einen deutlichen Umbruch zur Epoche des Modernismus.
Einzelne Gebäude oder Ensembles der frühen modernen Architektur im Stil des Backsteinexpressionismus mit aufwendigem Fassadenschmuck und außergewöhnlicherer Gestaltung wie etwa im Kontorhausviertel wurden freilich als Ausdruck zeitgenössischer Hamburger Selbstverständlichkeit registriert, wohingegen monotone Häuserblöcke wie etwa jene in der Jarrestadt als Vorbild für spätere unbedeutende Nachkriegsbauten unbeachtet blieben.
Unter Zuhilfenahme von Google Maps 3D und des Geoportals Hamburg mit den Layern für Denkmäler und Ensembles ließen sich im Untersuchungsgebiet etwa 14.000 historische Gebäude aus der Zeit zwischen den Jahren 1256 und 1925, welche Krieg und Wiederaufbau sowie das Hamburgische Streben nach Wirtschaftlichkeit überstanden haben, identifizieren und in den Karten deutlich hervorheben.
Fig. 4: das Untersuchungsgebiet
Fig. 5: 14.000 historische Gebäude im Untersuchungsgebiet mit Lage der Kartenausschnitte (Fig. 17 bis Fig. 26)
2.4 Stadtdetails
Verfeinert wurde die Auswahl der Altbausubstanz durch Recherche und Erfassung von nahezu 1000 Stadtdetails vor Ort, die als Zeugen der ursprünglichen Stadtatmosphäre herausragen.
An erster Stelle sind hier natürlich typische Hamburger Bauformen wie die Hamburger Burg, Wohnterrassen und Kontorhäuser zu nennen, gefolgt von Ensembles, besonderen Gebäuden, Passagen, Brücken und Hinterhöfen, sowie Stadttoren, Türmen und den speziellen Rubriken für Damals, Letzte Zeugen und Verborgen.
‚Damals‘ ist die Bezeichnung für (teilweise erst Jahrzehnte nach WK II) abgegangene Hamburger Gebäude oder Etablissements, deren Existenz noch immer im kollektiven Hamburger Gedächtnis abgespeichert ist, wie z.B. das HSV-Stadion am Rothenbaum, Onkel Pös Carnegie Hall, die Sagrotan-Fabrik am Goldbekplatz, das Wandsbeker Schloss, die „Schweinebadeanstalt“, die berühmte „Kieztanke“ an der Reeperbahn oder die Kaschemme des „Lords von Barmbek“.
Gerade in den von Zerstörungen am schlimmsten betroffenen östlichen Stadtteilen wie Wandsbek, Barmbek oder Hammerbrook, aber auch in Altona-Altstadt im Westen Hamburgs finden sich bei genauem Hinschauen oftmals ‚letzte Zeugen‘, teils prachtvolle Einzelgebäude aus früheren Zeiten in einer kompletten Neubau-Umgebung. Ebenso liegen diese manchmal gänzlich ‚verborgen‘, wie beispielsweise die ‚Traumgold Matratzenfabrik‘ in Hasselbrook oder die ‚Schokoladenburg‘ in Hammerbrook.
Fig. 6: Hamburgische Signaturen
2.5 Stadtentwicklungsphasen
Im nächsten Schritt wurden georeferenzierte historische Karten der wichtigsten Epochen über das Untersuchungsgebiet projiziert, so dass nicht nur wesentliche Stadtentwicklungsphasen, beginnend mit der Hammaburg bis zur Einbeziehung der Vorstadt St. Georg, übertragen werden konnten, sondern auch die alte Grenzlinie zwischen Hamburg und Altona, das von 1640 bis 1864 unter dänischer Verwaltung stand sowie die Entwicklung bzw. Verlagerungen des Hamburger Hafens.
Darüber hinaus sind Hamburger Großprojekte wie der Elbtower, die HafenCity und die Neue Mitte Altona in den Karten bereits visualisiert, wodurch diese nicht nur in die Vergangenheit, sondern auch in die städtebauliche Zukunft Hamburgs blicken lassen.
Fig. 7: Stadtentwicklungsphasen
Fig. 8: Legende Stadtentwicklungsphasen
2.6 Historische Wege zu Wasser und zu Lande
Aus den Mündungsarmen der Alster und Bille in die Elbe sind die Hamburger Fleete hervorgegangen, welche zur Entwässerung, als Stadtgraben zur Verteidigung, aber auch zunehmend für den Warenverkehr dienten. Am Reichenstraßenfleet beispielsweise lag um das Jahr 900 der erste! Hafen Hamburgs. Viele dieser Fleete wurden im Laufe der Zeit ohne Not zugeschüttet, so dass heutzutage nur noch einige wenige Straßennamen
(Kattrepelsbrücke, Börsenbrücke, Rolandsbrücke und Katharinenbrücke) Kunde über deren usprüngliche Lage geben. Von daher sind hier hinsichtlich des amphibischen Charakters Hamburgs auch die wichtigsten der verschwundenen Fleete verzeichnet, so dass u.a. die beiden ehemaligen Marschinseln Cremon und Grimm wieder als solche sichtbar werden.
Auch der Verlauf der Alster hat sich, einerseits durch natürliche Einflüsse, andererseits durch menschliche Eingriffe verändert, mit gravierenden Folgen für die einstmals dort befindlichen Hafenanlagen.
Von 1953 bis 1963 schlug man die Ost-West-Straße als autobahnähnliche Schneise ohne Rücksicht auf gewachsene Strukturen mitten durch das historische Zentrum der Hansestadt, so dass alte Handelsstraßen, über die der Verkehr jahrhundertelang floss, zu bedeutungslosen Nebenstraßen degradiert wurden.
In diesem Zusammenhang sind im Kartenwerk zwei rekonstruierte historische Wege beschrieben:
Fig. 9: historischer Alsterverlauf um 1841
Fig. 10 rekonstruierter Weg entlang der alten Alster
2.6.1 Von der Binnenalster zur Elbe
Neben der Elbe ist die Alster aus historischer Sicht der bedeutendste Hamburger Fluss.
Lange bevor der Mensch gestaltend in ihren natürlichen Lauf eingriff, schlängelte sich diese auf ihren letzten zwei Kilometern bis zur Einmündung in einen Seitenarm der Bille an jenen Flussinseln vorbei, die später einmal Neue Burg, Grimm und Cremon genannt wurden.
Der ursprüngliche Flussverlauf ist heutzutage kaum noch nachvollziehbar, und doch führt dieser gleichwohl an wichtigen Schauplätzen der Hamburgischen Geschichte vorbei.
Von den Alsterarkaden (1) bis zum Graskeller (2) verläuft die Alster noch in ihrem usprünglichen Flussbett und trägt hier die Namen ‚Kleine Alster‘ bzw. ‚Alsterfleet‘. Letzteres bildet seit Ende des 19. Jahrhunderts den durch zwei Schleusen einzigen schiffbaren Hauptabfluss der Alster in die Elbe.
Die ‚Alte Alster‘ jedoch zweigt am Graskeller unter dem Namen ‚Mönkedammfleet‘ (3) ab, taucht aber nach wenigen Metern unter dem Hochbahnviadukt der Linie 3 weg und verschwindet schließlich gänzlich unter einem Neubau der Hamburger Sparkasse (4).
An der Mühlenbrücke taucht die ‚Alte Alster‘ als ‚Nikolaifleet‘ wieder auf. Just an dieser Stelle befand sich einst die Einmündung des Reichenstraßenfleets, jenem Seitenarm der Bille, an welchem um das Jahr 900 der erste! Hafen Hamburgs lag (5).
Nur wenige Meter alsterabwärts, zwischen Trostbrücke und Zollenbrücke befand sich vom Mittelalter bis zum Hamburger Brand 1842 das weltliche Zentrum der Stadt sowie der innerste Teil des Hafens mit einem Ensemble aus Rathaus, Börse, Gericht, Waage und Altem Kran.
Die älteste Hamburger Brücke, die Zollenbrücke aus dem Jahre 1633 (6), liegt nach der Zuschüttung des Gröningerstraßenfleets nach 1945 abgeklemmt und ihrer eigentlichen Funktion beraubt, irgendwo deplatziert im Stadtgebiet und mag lediglich demjenigen von früheren Zeiten erzählen, der nicht nur eben schnell über sie hinweg hetzt, weil die Mittagspause vorüber ist.
Etwa 500 Meter flussabwärts in der Deichstraße (7) trotzte ein kleines Ensemble althamburgischer Bürgerhäuser allen Zerstörungen und bildet heute mit Cafés und Restaurants eine touristische Attraktion von hoher Anziehungskraft.
Nach weiteren 100 Metern mündet die Alte Alster (Nikolaifleet) in einen alten Flussarm der Bille (Zollkanal). Hier unterhalb der Hohen Brücke (8) errichtete man nach der Sturmflut von 1962 ein kleines Sperrwerk, das im Falle von weiteren Sturmfluten geschlossen werden kann.
Fig. 11: Alter Hafen 1592 zwischen Trost- und Zollenbrücke (oben)
Fig. 12: Zollenbrücke im Jahre 1842 mit Altem Kran (links)
und 2019 (rechts) vor zugeschüttetem Gröningerstraßenfleet
Fig. 13: die alte Handelsstraße zwischen Millerntor und Domplatz im Jahre 1841
Fig. 14: rekonstruierter Weg zur Hammaburg
2.6.2 Vom Millerntor zur Hammaburg
Die alte Hauptstraße zwischen Altona und Hamburg verlief über Jahrhunderte vollkommen anders als die heutige Ost-West-Straße (Ludwig-Erhardt-Str. / Willy-Brandt-Str.).
Vom großen westlichen Hamburger Stadttor ist nur die nördliche Millerntor-Wache (1) übrig geblieben.
An seinem ursprünglichen Platz lag das Häuschen bis zum Jahre 2004 so dicht an der vielbefahrenen Bundesstraße 4, dass es durch Fahrzeuge mehrfach beschädigt und bei der Instandsetzung um einige Meter versetzt wurde.
Nach etwa 300 Metern in östlicher Richtung auf der Ost-West-Straße zweigt ein Fußweg (2) zum Neuen Steinweg ab, welcher zum Großneumarkt (3) führt, dem zentralen Platz der im 17. Jahrhundert entstandenen Neustadt mit einigen, gut erhaltenen gründerzeitlichen Gebäuden.
Die alte Handelsstraße verlief weiter über den Alten Steinweg (4) bis zur Ellerntorsbrücke aus dem Jahre 1668 (5), welche zeitlich nicht so recht in die Umgebung passen mag. Kaum zu glauben, dass hier noch vor 1945 eine Straßenbahn fuhr.
Das abgegangene Ellerntor lag einst genau an jener Stelle, wo sich heute der fleetseitige Eingang zum ‚Fleethof‘ befindet, einem Block aus Stahl, Glas und Beton, durch den der Weg weiter ins Zentrum über den Großen Burstah (6)führt, eine Straße, die um die Jahrhundertwende eine der besten Hamburger Einkaufsadressen war.
Hinter der Mühlenbrücke beginnt der älteste Teil Hamburgs, welcher bereits um das Jahr 900 besiedelt war.
Nach etwa 200 Metern gelangt man zum Domplatz, jener Stelle, an dem der Besiedlungsimpuls Hamburgs ausgelöst wurde (7). Dieser unspektakuläre Platz wurde Jahrzehnte lang als Parkplatz genutzt, obwohl er der kulturgeschichtlich bedeutendste Ort Hamburgs ist.
Hier stand zum einen, da ist sich die Forschung nach groß angelegten archäologischen Grabungen im Jahre 2006 einig, die legendäre Hammaburg, deren vermutete Umrisse man durch einen begehbaren Wall aus Stahlplatten nachzuahmen versucht hat.
Zum anderen war dies der Standort des alten (katholischen) Mariendoms, der auf eine Geschichte bis ins 9. Jahrhundert zurückblicken konnte. Im Jahre 1805 wurde dieser kurzerhand abgerissen, u.a. weil er nach dem Zeitgeschmack jeglichen Wert für die (protestantische) Bevölkerung verloren hatte.
Heute erinnern noch 39 quadratische Plastikklötze, welche die ursprüngliche Position der tragenden Pfeiler markieren sollen, an das historisch bedeutende Sakralgebäude.
Ein letzter Zeuge der langen Geschichte dieses Ortes ist der Schauraum ‚Bischofsturm‘ des Archäologischen Museums Hamburg im Souterrain der Filiale einer Bäckereikette.
Fig. 15: Ellerntorsbrücke vor dem Ellerntor um 1600 (links) und 2019 in moderner Umgebung (rechts)
Fig. 16: rekonstruierte Hammaburg (© AMH) und Domplatz 2019
2.7 Kartenausschnitte des Zentrums und der Vorstädte
Das volle Spektrum der Möglichkeiten zur Betrachtung, Analyse und Interpretation des Hamburger Stadtgebietes anhand des Kartenwerkes „Spuren der Zeiten in Hamburg“ wird deutlich durch den Vergleich verschiedener Kartenausschnitte des Zentrums und der Vorstädte.
Der jeweilige Grad der Erhaltung bzw. Zerstörung historischer Bausubstanz springt sofort ins Auge, Ensembles und besondere Stadtdetails sind auf einen Blick zu erkennen.
2.7.1 Das 1870er-Ensemble Brüderstraße/Wexstraße
Die Brüderstraße und die Wexstraße mit ihren gründerzeitlichen Fassaden wurden im Jahre 1876 im Hamburger Stadtteil Neustadt angelegt. Umgeben von belanglosen Nachkriegsbauten hat sich hier ein pittoreskes kleines Ensemble mit Restaurants, Cafés, Galerien und kleinen Geschäften wie eine Insel erhalten und vermittelt einen guten Eindruck von Hamburgs Aussehen um diese Zeit.
Exakt an der Stelle, wo die Signatur für ‚Ensemble‘ in der Brüderstraße eingetragen ist, kann man jenen 360°-Rundumblick (Fig. 18) genießen. Bewegt man sich nur wenige Zentimeter davon weg, wird das Panorama wieder von Nachkriegsbauten gestört.
Dementsprechend häufig wird das Ensemble auch für Dreharbeiten genutzt.
Fig. 17: Brüderstraße/Wexstraße
Fig. 18: 360°-Panorama in der Brüderstraße
2.7.2 Friedhöfe
Aufgrund der Überfüllung der innerstädtischen Kirchhöfe wurden an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert außerhalb der Wallanlagen neue Begräbnisplätze angelegt, die Dammtor- und die Steintorfriedhöfe. Bereits fünfzig Jahre später erwiesen sich diese als zu klein für die rasch anwachsende Stadtbevölkerung. In diesem Zusammenhang eröffnete man 1877 in Ohlsdorf den weltgrößten Parkfriedhof, schloss kurz darauf die Steintorfriedhöfe und räumte das Gelände für den Bau des Hamburger Hauptbahnhofes, der sich seitdem zur Hälfte auf ‚geheiligtem‘ Boden befindet.
Auf den Dammtorfriedhöfen fand das letzte Begräbnis noch 1909 statt. In der Folgezeit von den Nazis eingeebnet und zu einem Aufmarschplatz umgestaltet, befindet sich heute im nördlichen Teil der Park Planten un Blomen, die südlichen Flächen hingegen sind mit den Ausstellungshallen der Hamburg-Messe überbaut.
Ein einziges Gebäude aus dieser Zeit ist noch erhalten, die frühere St.-Petri-Begräbnis-Kapelle aus dem Jahre 1802 in der Petersburger Straße, welche sich wie ein zeitlicher Fremdkörper zwischen einem Zaun des Messegeländes und der Rückwand von Messehalle B2 wegduckt. Weiter östlich erinnert noch die Straße „Bei den Kirchhöfen“ an die frühere Begräbnisstätte.
Fig. 19: Hamburg Hauptbahnhof
Fig. 20: Messe Hamburg
2.7.3 Die Grenze zwischen Hamburg und Altona
Das „All to nah“ (allzu nah) an der Grenze zu Hamburg gelegene Fischerdorf unterstand von 1640 bis 1864 dem dänischen König und wurde sehr zum Verdruss der Hamburger Ratsherren von diesem mit zahlreichen Privilegien ausgestattet, u.a. 1664 mit dem Stadtrecht - Zuzugs-, Religions-, Gewerbe- und Zollfreiheit folgten. Direkt vor den Toren Hamburgs war damit einer der ersten Freihäfen Europas entstanden.
Während der napoleonischen Kontinentalsperre fand hier reger Schmuggel zwischen dem dänischen Altona und der Kaiserlich Französischen Stadt Hamburg statt.
Wie auf obigem Kartenausschnitt der Sternschanze zu erkennen ist, verlief die Grenze zwischen Hamburg und Altona, das erst 1937! von der Hansestadt einverleibt wurde, quer durch den Hamburger Hof, einem Hinterhof zwischen Schanzenstraße und Schulterblatt. Die Häuser dieses Wohnhofes, der zum Großteil auf Hamburger Territorium lag, waren allerdings aus baulichen Gründen allein über Altonaer Gebiet erschlossen. Während der Cholera-Epidemie von 1892 hatte dies für dessen Bewohner maßgebliche Auswirkungen, da deren Häuser an des modernere Altonaer Wassernetz angeschlossen waren. Hier trat kein einziger Krankheitsfall auf, während man in den benachbarten Häusern an der Schanzenstraße, die mit Hamburger Wasser versorgt waren, hohe Opferzahlen zu beklagen hatte.
Fig. 21: Sternschanze
2.7.4 Eppendorfer Baum
Die Gegend um den Eppendorfer Baum, dem früheren Schlagbaum zwischen Eppendorf und Harvestehude stellt mit einem Radius von über einem Kilometer das größte zusammenhängende Altbaugebiet Hamburgs dar. Dementsprechend finden sich hier eine große Anzahl von gastronomischen Einrichtungen und viele inhabergeführte Geschäfte.
Fig. 22: Eppendorfer Baum
2.7.5 Mühlenkamp-Viertel
Auch im weitgehend zerstörten Hamburger Stadtgebiet östlich der Alster finden sich gut erhaltene Ensembles mit historischer Bebauung. Das größte Ensemble ist das lebendige Mühlenkamp-Viertel um den Schinkelplatz in Winterhude mit einem engagiertem Stadtteilverein.
Fig. 23: Mühlenkamp-Viertel
2.7.6 Altona-Altstadt
Vor dem Anschluss durch die übermächtige Konkurrentin infolge des Groß-Hamburg-Gesetzes von 1937 war das dicht bebaute Altona mit 230.000 Einwohnern die größte Stadt Schleswig-Holsteins. Der historische Kern um das Altonaer Rathaus wurde 1943 vollständig zerbombt, so dass ein Wiederaufbau unmöglich war. Letzte Zeugen sind hier der Jüdische Friedhof und die in vereinfachter Form wieder errichtete Hauptkirche St. Trinitatis.
Fig. 24: Altona-Altstadt
2.7.7 Barmbek
Auf einer kleinen Grünfläche an der Ecke Brucknerstraße/Reesestraße im Bezirk Barmbek-Süd steht eine Informationstafel der Geschichtswerkstatt Barmbek (Position 27), welche hier auf die Stelle des früheren Dorfkerns hinweist. Die Weltkriegszerstörungen waren hier so immens, dass es sonst keine weiteren Hinweise mehr gibt auf die Keimzelle des verstädterten und später eingemeindeten Dorfes im Nordosten Hamburgs.
Nur wenige Meter nördlich der Grünfläche stand die Heiligengeistkirche, die 1903 eingeweihte erste Gemeindekirche Barmbeks. Nachdem man 2003 für das Sakralgebäude einen dringenden Sanierungsbedarf festgestellt hatte, diesen aber niemand finanzieren konnte, schloss und entwidmete man die Kirche und riss sie schließlich 2008 bis auf die Apsis ab, welche als architektonische Posse in eine schicke Wohnanlage mit Tiefgarage (Barmbeker Turmhaus - das Bauvorhaben wurde von Anwohnerprotesten begleitet) integriert wurde.
Fig. 25: Barmbek
2.7.8 Hasselbrook
Auch die Gegend um den Bahnhof Hasselbrook erlitt im Zweiten Weltkrieg schwerste Zerstörungen.
Vollkommen versteckt innerhalb eines Neubaublocks auf der Papenstraße befindet sich die denkmalgeschützte frühere ‚Traumgold‘-Matratzenfabrik aus dem Jahre 1890 mit Wohnungen, Ateliers, Therapie- und Theaterräumen von Menschen aus der Kreativ-Szene.
Nur ein paar Meter weiter östlich liegt das ehemalige Empfangsgebäude des Bahnhofs Hasselbrook aus dem Jahre 1908, welches heute ein gemütliches Restaurant mit originalen Glasursteinen unter einem Kreuzgrat- und Tonnengewölbe beherbergt, das über großes Einzugsgebiet verfügt, da im weiteren Umkreis keine vergleichbaren gastronomischen Einrichtungen zu finden sind.
Fig. 26: Hasselbrook
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